Deutschland um 1900
Um das Jahr 1900 herum war Deutschland durch die Industrialisierung zu einer wirtschaftlichen Großmacht geworden. Die Städte waren so rasant gewachsen, dass große Wohnungsnot herrschte. Auch das Bildungswesen und die Gesundheitsversorgung waren in katastrophalem Zustand. Viele befürchteten „Zivilisationsschäden“ durch Industrialisierung und Verstädterung und forderten eine „naturgemäße Lebensweise“. Die Summe der Ideen zur Veränderung der Gesellschaft wird heute als Lebensreformbewegung bezeichnet. Einer ihrer Vordenker war Hermann Muthesius. Er begrüßte den technischen Fortschritt und suchte nach dem typischen Stil seiner Zeit und Nation, dem „deutschen Stil“. Wichtig für die Reformbewegung war 1906 die Dritte Deutsche Kunstgewerbeausstellung in Dresden. Sie ging als umfassende und den modernen Zeitgeist prägende Ausstellung in die Kunstgeschichte ein.
Gesellschaft im Widerspruch
Um das Jahr 1900 herum war die Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs voller Widersprüche. Das Land war in den Jahren zuvor durch die Industrialisierung schnell zu einer wirtschaftlichen Großmacht geworden. In den zahlreichen Fabriken waren viele neue Arbeitsplätze entstanden und die Städte deshalb rasant gewachsen. Doch vor allem die Arbeiterfamilien lebten in ärmlichsten Verhältnissen, es herrschte große Wohnungsnot und das Bildungswesen und die Gesundheitsversorgung stießen zunehmend an ihre Grenzen.
Die Lebensreformbewegung sucht Antworten
Als Reaktion auf diese Defizite fanden sich in der Lebensreformbewegung vor allem die jungen bürgerlichen Kreise zusammen. Ihre Anhänger gingen davon aus, dass die Entwicklungen der Industrialisierung und Verstädterung zu „Zivilisationsschäden“ bei den Menschen führen, und forderten eine Rückkehr zu einer „naturgemäßen Lebensweise“. Es entstanden zahllose Vereine mit vielfältiger politischer Ausrichtung zu den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Anliegen. Die Bandbreite der Themen reichte von Sozialreformen und Reformbewegung über Ökolandbau, Naturheilkunde und Vegetarismus bis zum Aufbau von Siedlungsgenossenschaften und Gartenstädten. Der Wille zu Veränderungen zeigte sich auch in den Bildenden Künsten, der Literatur, dem Theater und den Geisteswissenschaften. Eine zentrale Rolle nahmen dabei Leipziger Verlage wie der Inselverlag und der Seemann Verlag sowie die Münchner Zeitschriften „Jugend“ und „Simplicissimus“ ein.
Architekt und Vordenker: Hermann Muthesius
Der Architekt und Publizist Hermann Muthesius schuf den theoretischen Rahmen der Reformen im Bereich der gegenständlichen Kultur. Er hatte sich in England mit der von William Morris initiierten „Arts and Crafts“-Bewegung auseinandergesetzt, die z. B. industriell gefertigte Produkte seelenlos fand und darum eine Rückbesinnung auf das Handwerk forderte. Muthesius dagegen begrüßte den technischen Fortschritt und die industrielle Produktionsweise, weil er nach dem typischen Stil seiner eigenen Zeit suchte. Dabei ging es ihm auch darum, eine eigenständige nationale Kultur und Identität zu finden, einen „deutschen Stil“, der ohne die Nachahmung von Vorbildern aus England und Frankreich oder die Orientierung auf historische Vorlagen auskam. Darum lehnte er den Stilmix des Historismus ebenso ab wie den Jugendstil, der für ihn nur eine Modeerscheinung war.
Initialzündung für den modernen Stil
Ein wichtiger Meilenstein für die Reformbestrebungen war 1906 die Dritte Deutsche Kunstgewerbeausstellung in Dresden. Das Ausstellungskonzept ließ ausschließlich Künstler als Aussteller zu, Unternehmen waren nur im Rahmen von Kooperationen mit ihnen beteiligt. So konnten sich die bedeutendsten Vertreter der deutschen Reformbewegung auf der Ausstellung zeigen. Darunter waren auch der Architekt und Designer Richard Riemerschmid und sein Auftraggeber Karl Schmidt, Inhaber der Deutschen Werkstätten Hellerau, die hier das erste Maschinenmöbelprogramm der Welt namens „Das Dresdner Hausgerät“ vorstellten. Die zerlegbaren Möbel aus typisierten Elementen waren miteinander kombinierbar und vereinten eine effiziente Fertigung mit dem ästhetischen Anspruch der Handwerksarbeit.
Die Dritte Deutsche Kunstgewerbeausstellung ging als umfassende und den modernen Zeitgeist prägende Ausstellung in die Kunstgeschichte ein und war die Initialzündung für die Gründung sowohl des Deutschen Werkbundes, der die Anliegen der Reformbewegung fortführte, als auch der Gartenstadt Hellerau.